Wer die Klimakrise verstehen will, muss den Pfad des Geldes verfolgen. Projekte für neue Öl- und Gasfelder, LNG-Terminals, Kohleminen oder Pipelines entstehen nicht aus dem Nichts – sie werden finanziert, versichert und an die Kapitalmärkte gebracht. Kreditlinien, Anleiheemissionen und Versicherungs-Underwriting sind die unsichtbaren Fundamente, auf denen fossile Expansion ruht. Gleichzeitig zeigen „grüne“ Labels und ESG-Scores oft ein geschöntes Bild, das reale Emissionen, Lock-in-Risiken und politische Blockaden ausblendet. Wenn wir den Finanzsektor vom Teil des Problems zum Motor der Lösung machen wollen, müssen wir die Mechanik verstehen – und die Hebel konsequent nutzen, die heute schon wirken können.
Die Mechanik: Kredit, Anleihen, Underwriting
- Kreditvergabe: Großprojekte wie Offshore-Ölplattformen oder Kohlekraftwerke werden über syndizierte Kredite finanziert. Ohne diese Kreditlinien fehlen die Mittel für Explorationsbohrungen, Bau, Verlängerungen der Lebensdauer (Life Extension) und Wiederinbetriebnahmen.
- Anleihe- und Aktienemissionen: Investmentbanken strukturieren und platzieren Anleihen und IPOs/Secondary Offerings für fossile Unternehmen. Sie öffnen so den Zugang zum Kapitalmarkt und verteilen die Risiken auf viele Schultern – inklusive passiver Fonds, in denen auch Ihre Ersparnisse landen können.
- Versicherungs- und Rückversicherungs-Underwriting: Kein Großprojekt startet ohne Versicherung. Erst Versicherer und Rückversicherer machen Bauphase und Betrieb kalkulierbar. Wo Underwriting aussteigt, steigen die Projektkosten – oft so stark, dass Vorhaben scheitern. Umgekehrt stabilisieren Policen bestehende Infrastrukturen und verlängern deren Laufzeiten.
Diese drei Zahnräder ermöglichen nicht nur Neubauten, sondern zementieren bestehende Anlagen. Jeder zusätzliche Dollar für Exploration und Infrastruktur erzeugt Lock-in-Effekte über Jahrzehnte – mit Emissionen, die sich mit der Zeit vervielfachen.
Warum ESG-Labels oft nicht reichen – und wo Lock-in entsteht
ESG-Ratings messen vor allem Prozess- und Governance-Indikatoren sowie unternehmensspezifische Risiken. Was häufig zu kurz kommt:
- Absolute Emissionen und ihr Alignment mit dem 1,5-Grad-Pfad.
- Scope-3-Emissionen entlang der Wertschöpfungskette (bei Öl und Gas der mit Abstand größte Posten).
- Der entscheidende Unterschied zwischen „grünem“ Marketing und realen Investitionsplänen (CapEx).
Indexfonds und Pensionskassen verstärken Lock-in-Effekte:
- Indexfonds halten per Design große Teile des Marktes – auch fossile Schwergewichte. Ohne aktive Stimmrechtsnutzung und klare Ausschlusskriterien werden sie zum stillen Mitfinanzierer.
- Pensionskassen und Lebensversicherer sind langfristige Eigentümer und Kreditgeber. Wenn sie fossile Assets als „verlässliche Rendite“ behandeln, stabilisieren sie Geschäftsmodelle, die mit Klimazielen unvereinbar sind.
- Rückversicherer fungieren als Sicherheitsnetz. Bleibt die Rückdeckung bestehen, sind Erstversicherer eher bereit, riskante fossile Projekte zu zeichnen.
Greenwashing gedeiht, wenn Institute „Netto-Null bis 2050“ versprechen, gleichzeitig aber neue Öl- und Gasfelder finanzieren, Emissionsintensitäten statt absoluter Emissionen senken oder auf Kompensationen setzen, die reale Reduktionen verzögern. Entscheidend ist nicht das Label, sondern die Summe aus Portfolioausrichtung, CapEx-Lenkung, Underwriting-Politik und Stimmrechtsverhalten.
Zentrale Hebel: Von der Absicht zur Wirkung
- Paris-kompatible Ausstiegs- und Transformationspläne: Keine Finanzierung, kein Underwriting und keine Investitionen in neue Kohleminen, Kohlekraftwerke, neue Öl- und Gasfelder oder neue LNG-Infrastruktur. Klare Pfade für den Ausstieg aus bestehenden Kohlebeständen sowie die kontrollierte Reduktion von Öl und Gas mit kurzfristigen Zwischenzielen (z. B. 2025, 2030).
- Offenlegung finanzierter Emissionen (inklusive Scope 3): Finanzinstitute sollten ihre finanzierten Emissionen nach anerkannten Standards berichten (z. B. PCAF) – inklusive der Scope-3-Emissionen der finanzierten Unternehmen. Relevant sind absolute Emissionen, nicht nur Intensitäten.
- Stimmrechtsnutzung und Engagement: Asset Manager und -Owner sollen systematisch für klimaambitionierte Aktionärsanträge stimmen, Verwaltungsräte für mangelhafte Übergangspläne zur Verantwortung ziehen und bei ausbleibendem Fortschritt desinvestieren. Beneficial Owners (z. B. Pensionskassen-Mitglieder) können Leitlinien vorgeben.
- Klare Ausschlusskriterien: Ausschluss kohleintensiver Unternehmen ohne glaubwürdigen Ausstiegsplan; Ausschluss von Unternehmen, die in neue Öl- und Gaserschließungen investieren; Ausschluss von Unternehmen mit signifikantem Umsatz aus Teersanden, Fracking, Arctic/Offshore-Ultra-Deepwater. Für Versicherer: keine Policen für neue fossile Infrastruktur, strikte Einschränkungen bei Bestandsanlagen.
- Vergütung und Governance: Boni an absolute Emissionsminderungen, CapEx-Alignment und Fortschritt bei Ausstiegen knüpfen; Klimaexpertise in Boards verankern; Lobbying an Paris-Zielen ausrichten.
Transparenz, Messung und Redlichkeit
Gute Daten sind die Basis guter Entscheidungen. Wichtige Standards und Prinzipien:
- Financed Emissions: Quantifizierung nach PCAF-Standard ermöglicht Vergleichbarkeit. Offenlegung sollte methodische Annahmen, Datenlücken und Unsicherheiten transparent machen.
- Scope 3 ist zentral: Bei fossilen Unternehmen machen Nutzungsemissionen den Löwenanteil aus. Ausklammern verzerrt die Lage.
- Absolute statt nur intensive Ziele: Emissionsintensitäten können durch Wachstum sinken, während die Gesamtemissionen steigen. Entscheidend sind absolute Reduktionen im Einklang mit 1,5 Grad.
- Portfolio-Alignment und CapEx-Alignment: Nicht nur der Fußabdruck zählt, sondern ob Investitionspläne der Portfoliounternehmen mit dem 1,5-Grad-Pfad vereinbar sind.
- Keine Scheinlösungen: Kompensation ist kein Ersatz für Vermeidung; Übergangskategorien („Transition“) dürfen keine Hintertür für neue fossile Expansion sein.
Regulatorische Offenlegungen (z. B. TCFD/ISSB-konforme Berichte, EU-Offenlegungsverordnung, CSRD) helfen – entscheidend bleibt die Qualität der Ziele und die Konsequenz in der Umsetzung.
Was Sie heute konkret tun können: Ihr Geld als Klimastreik
- Bank wechseln: Prüfen Sie, ob Ihre Hausbank fossile Expansion finanziert. Wechseln Sie zu Instituten mit strikten Ausschlusskriterien, transparenter Emissionsberichterstattung und klaren Paris-Plänen. Achten Sie auf Kontoumzugservices, Einlagensicherung und Konditionen.
- Druck auf Hausbanken und Sparkassen: Stellen Sie schriftlich Fragen zu finanzierten Emissionen, Ausschlusskriterien, Underwriting-Politik und Stimmrechtsverhalten. Bitten Sie um Zeitpläne mit Zwischenzielen und um eine Position zu „keine neuen fossilen Projekte“.
- Pensionskasse und betriebliche Altersvorsorge: Fordern Sie Divestment aus Kohle, Öl und Gas, sofern keine glaubwürdigen 1,5-Grad-Pläne vorliegen. Verlangen Sie aktive Stimmrechtsnutzung, jährliche Offenlegung finanzierter Emissionen und wissenschaftsbasierte Ziele. Schließen Sie sich mit Kolleginnen und Kollegen zusammen – in vielen Einrichtungen sind Mitgliederrechte der Hebel.
- Fonds und ETF prüfen: Lesen Sie Anlagepolitik und Stimmrechtsberichte. „ESG“ heißt nicht automatisch Paris-kompatibel. Bevorzugen Sie Strategien mit Ausschlüssen neuer fossiler Expansion, klaren Reduktionszielen und engagiertem Voting.
- Watchdog-Tools nutzen: Rankings und Datenbanken helfen beim Faktencheck, z. B. Berichte zu Bankenfinanzierung fossiler Energien, Exit-Listen für Kohle, Öl und Gas, Scorecards zu Versicherern sowie Tracker zu Richtlinien großer Vermögensverwalter.
- Kommunizieren und bündeln: Schreiben Sie Kundendienst und Investor-Relations – und teilen Sie die Antworten öffentlich. Viele kleine Stimmen ergeben messbaren Druck.
Hinweis: Dies ist keine Anlageberatung. Prüfen Sie Risiken, Kosten und Eignung sorgfältig.
Kapital umlenken: Aus Bremsen werden Beschleuniger
- Wärmepumpen und Gebäudesanierung: Private Mittel, Förderkredite und kommunale Programme beschleunigen den größten Emissionshebel im Gebäudesektor.
- Stromnetze und Speicher: Netzverstärkung, intelligente Verteilnetze, Batteriespeicher und flexible Lasten sind das Rückgrat eines 100 Prozent erneuerbaren Systems.
- Erneuerbare Energien: Wind- und Solarparks, Agri-PV, Mieterstrom und Bürgerenergie senken Preise und Emissionen – Beteiligungsmodelle fördern Akzeptanz.
- Öffentlicher Verkehr und Sharing: Investitionen in Bahn, Tram, Bus, Rad- und Fußinfrastruktur bieten hohe Klimawirkung pro Euro und steigern Lebensqualität.
- Industrieprozesse: Elektrifizierung, grüner Wasserstoff, Kreislaufwirtschaft – unterstützt durch grüne Leitmärkte und langfristige Abnahmeverträge.
Finanzprodukte wie grüne Anleihen oder Impact-orientierte Fonds können Kanäle sein, sofern sie strenge Kriterien, Transparenz und Wirkungsmessung erfüllen. Wichtig bleibt: Kein „Grün“ rechtfertigt gleichzeitig die Finanzierung neuer fossiler Expansion.
Kollektive Wirkung: Vom Einzelnen zur Bewegung
- Als Kundin/Kunde: Bündeln Sie Forderungen mit anderen, nutzen Sie standardisierte Briefvorlagen, starten Sie Filialgespräche und Online-Petitionen.
- Als Anteilseigner: Nutzen Sie Stimmrechtsvertretungen, schließen Sie sich Investoreninitiativen an und unterstützen Sie klimaambitionierte Aktionärsanträge.
- Als Beschäftigte:r: Bringen Sie Klimaauflagen in Betriebs- und Personalräte, regen Sie nachhaltige Pensionsoptionen an und unterstützen Sie interne CO2-Budgets.
- Als Kommunen und Institutionen: Legen Sie Treasury-Richtlinien mit Ausschlüssen fest, definieren Sie Beschaffungskriterien, nutzen Sie kommunale Banken als Hebel und fordern Sie von Versicherern Underwriting-Restriktionen für fossile Projekte.
Je klarer die Erwartungen und je transparenter die Fortschritte, desto größer die Wahrscheinlichkeit, dass Institute ihre Geschäftsmodelle anpassen.
Fallstricke erkennen und vermeiden
- „Kein Problem, wir senken die Intensität“: Intensitätsziele ohne absolute Deckel führen in die Irre. Fordern Sie absolute Reduktionen.
- „Gas ist die Brücke“: Neue Gasinfrastruktur schafft jahrzehntelange Abhängigkeiten und Methanemissionen. Brücken dürfen nicht in Sackgassen enden.
- „Netto-Null dank Kompensation“: Kompensation ist nachgeordnet. Priorität haben Vermeidung und reale Reduktionen, erst danach qualitativ hochwertige Restkompensation.
- „Wir finanzieren nur die ‚Guten‘ im Sektor“: Ohne Ausschluss neuer Erschließungen bleibt die Gesamtemission hoch. Transformationskriterien müssen CapEx und Lobbyarbeit adressieren.
- „Wir sind nur passiv“: Passive Fonds können aktiv abstimmen, Richtlinien setzen und Engagement betreiben. Passivität ist eine Entscheidung, keine Ausrede.
Vom Teil des Problems zum Motor der Lösung
Der Finanzsektor kann die Wende beschleunigen – wenn Kapital, Policen und Stimmrechte konsequent am 1,5-Grad-Pfad ausgerichtet werden. Das gelingt nicht durch Etiketten, sondern durch Entscheidungen: keine neuen fossilen Projekte, transparente finanzierte Emissionen inklusive Scope 3, entschlossenes Voting, klare Ausschlüsse und eine aktive Umlenkung in Wärmepumpen, Netze, Speicher, erneuerbare Energien und den öffentlichen Verkehr.
Was Sie heute starten können:
1) Prüfen und wechseln Sie Ihre Bank. 2) Schreiben Sie Ihrer Hausbank und Pensionskasse. 3) Überprüfen Sie Ihre Fonds auf echte Ausschlüsse und Voting-Praxis. 4) Nutzen Sie Watchdog-Tools für Fakten und Argumente. 5) Investieren oder engagieren Sie sich dort, wo Emissionen real sinken.
Folgen wir dem Geld – und lenken wir es dorthin, wo es Zukunft schafft. Jeder Schritt zählt, besonders wenn viele ihn gleichzeitig gehen.









